„Sozialversicherungssystem gräbt Familien das Wasser ab“ – Korrektur dringend nötig

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Das Sozialversicherungssystem in Deutschland muss durch die Aufnahme von existenzsichernden Kinderfreibeträgen dringend korrigiert werden. Dafür hat sich der ehemalige Vorsitzende Richter am Landessozialgericht Hessen, Jürgen Borchert, auf der Fachtagung „Beitragsgerechtigkeit in den Sozialversicherungen“ gestern in Potsdam mit Nachdruck ausgesprochen. Erziehungsleistungen und Unterhaltspflichten würden in Deutschland bislang viel zu wenig im Sozialversicherungssystem berücksichtigt, sagte er. Darauf habe das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach hingewiesen. Ohne die nötige Korrektur würde Eltern durch die Beiträge zur Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung ökonomisch das Wasser abgegraben, so Borchert. Bei den Löhnen sei nicht berücksichtigt, wie viele Personen davon ernährt werden müssten. Bei der sekundären Einkommensverteilung – also den Steuern und Abgaben – habe deshalb der Staat die Pflicht, Familien zu entlasten, um der hohen Familienarmut zu begegnen und Voraussetzungen für mehr Kinder zu schaffen.

 

Berlin/Potsdam, 9. November 2017 – Die Aufnahme von existenzsichernden Kinderfreibeträgen in den Sozialversicherungen würde nach Borcherts Einschätzung die hohe Familienarmut in Deutschland wirksam bekämpfen. Das sei umso wichtiger, da trotz einer immer weiter gestiegenen Elternerwerbstätigkeit die Familienarmut weiter zunehme, auch bedingt durch die Ausweitung des Niedriglohnsektors. Aber auch reguläre Einkommen auf dem Arbeitsmarkt würden die Mehrausgaben von Eltern nicht berücksichtigen.

Erschwerend komme hinzu: „Erwerbstätige Eltern haben mit den Sozialversicherungsbeiträgen eine extreme Abgabenlast zu bewältigen, die sie in die Sozialhilfe drängen. Sozialversicherungsbeiträge müssen nach Leistungsfähigkeit bemessen werden. Insbesondere Alleinerziehende werden in keinem anderen Land so hart rangenommen wie in Deutschland“, sagte Borchert. Dabei habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil aus dem Jahr 2001 klar gemacht, dass Eltern zwei Beiträge für die Sozialversicherungen leisten: neben den monetären auch die Erziehungsleistung.

„Rund 450.000 Euro kostet heute schätzungsweise die Erziehung eines Kindes bis zu dessen ökonomischer Selbstständigkeit. Davon trägt nicht einmal die Hälfte der Staat durch die Umverteilung von Finanzmitteln“, sagte Martin Werding, Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen der Ruhr-Universität Bochum, der zu den weiteren Referenten der Fachtagung gehörte. Im Gegenzug sichere jedes Kind den Sozialversicherungen ein Plus in Höhe von rund 120.000 Euro.

„Wenn wir das System nicht ändern, dann fördert der Staat weiter Kinderlosigkeit“, sagte Borchert. Schon heute gäbe es in Deutschland nur noch 700.000 Geburten pro Jahr. Die Zahl würde schon bald auf 600.000 sinken, warnte der Jurist. Ohne Kinder sei aber ein umlagefinanziertes Rentensystem nicht zukunftsfähig. „Das Rentensystem unterminiert heute seine eigene Basis“, sagte Borchert. „Mit diesem System fahren wir rasant an die Wand.“

 

„Familien sind die tragenden Säulen der nachwachsenden Generationen.“

Sympathien für seine Forderung erhielt Borchert von Familienverbänden und aus der Politik. „Familien sind die tragenden Säulen der nachwachsenden Generationen“, betonte Brandenburgs Finanzminister Christian Görke in seinem Grußwort zur Fachtagung. Deshalb sei eine Weiterentwicklung der Sozialversicherung geboten. „Denn in Kinder und Familien zu investieren ist wichtig“, sagte Görke.

Matthias Dantlgraber, Bundesgeschäftsführer des Familienbundes der Katholiken, unterstützte die Forderung Borcherts: „Es muss schlicht die ökonomische Tatsache stärker berücksichtigt werden, dass Familien höhere Ausgaben haben. Das muss auch in den Sozialversicherungsbeiträgen seinen Ausdruck finden. Denn ohne den generativen Beitrag von Eltern ist kein Staat zu machen.“ Siegfried Stresing, Vizepräsident des Deutschen Familienverbandes, wies darauf hin, dass oft ein falsches Bild über die Höhe der Familienförderung vermittelt werde: „Statt der in der Öffentlichkeit immer wieder behaupteten 200 Milliarden Euro, sind es nach Angaben des Bundesfamilienministeriums tatsächlich nur 55 Milliarden Euro, die Eltern als Familienförderung erhalten.“ Stresing und Dantlgraber forderten die Politik auf, endlich die Verfassungsaufträge der Karlsruher Richter zur Entlastung von Familien umzusetzen. Zudem riefen sie zur Unterstützung ihrer gemeinsamen Kampagne „elternklagen.de“ auf, bei der sich bereits tausende Familien für familiengerechte Beiträge in den Sozialversicherungen einsetzen.

Zu der Fachtagung hatte die Landesarbeitsgemeinschaft der Familienverbände im Land Brandenburg (LAGF) unter Federführung des Landesverbandes (LV) Berlin-Brandenburg des Familienbundes der Katholiken eingeladen. Dazu gehören auch der Deutsche Familienverband LV Berlin-Brandenburg, die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen Berlin-Brandenburg, die SelbstHilfegruppen Alleinerziehender LV Brandenburg  und der Verband Alleinerziehender Mütter und Väter LV Brandenburg.